Die Römer hatten ein sehr schönes lateinisches Sprichwort:
„Nihil nisi bonum“
(zugeschrieben: Chilon von Sparta, griechischer Philosoph, um 550 v. Chr.)
Über die Toten nur Gutes. Mir gefällt folgende Übertragung besser: Sprich nur gut – mit gutem Herzen – über die Toten. So heißt dieses Sprichwort und nimmt damit die Ambivalenz, in der wir Menschen leben, auch in diesen letzten Moment mit hinein. Dieses Hin- und Herwogen, wie eine Welle zwischen Licht und Schatten zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Friede und Kampf, zwischen Liebe und Gleichgültigkeit … Ein ganzes Leben, ein permanentes sowohl als auch. Ein ständiges sich hinterfragen, abwägen und entscheiden. Das, was uns zu Menschen macht, die Fähigkeit zum Bösen und zum alles überragenden Guten.
Meine Vorstellung von seiner Jugend spielt sich immer irgendwie in Schwarz-Weiß ab. Geprägt durch die vielen Fotos und Filme über diesen Teil seiner Geschichte. Sicher auch begünstigt durch die Metapher der finsteren Zeiten des Nationalsozialismus. Dann darf ich mir ins Gedächtnis rufen, dass auch damals die Sonne schien, der Himmel blau war und die Wiesen voll mit bunten Blumen. Dass am Morgen die Hähne krähten, am Abend die Glocken läuten und das Heu duftete. Das auch in diesen schlimmen Zeiten die Regenbögen am Himmel bunt waren und das Eis in der Eisdiele süß. Es wurde gefeiert, im Sommer wurden dazu unter der großen Linde im Hof Tische und Bänke aufgebaut.
Es wurde gelacht, geliebt, gestritten. Genau wie heute auch.
Woran bemisst sich der Wert eines Lebens? An seiner Dauer, an der Anzahl der Tage und Jahre, die es erreichte? Oder an dem, was wir hatten, erwarben oder besaßen? An dem, was wir lernten, konnten oder taten? Wer war Ernst Hauptmann? Ich möchte euch mit auf eine kleine Reise durch seine Lebensgeschichte nehmen und versuchen eine Antwort auf diese Frage zu finden.
Dazu habe ich nachfolgend die Predigt zu seiner Beerdigung veröffentlicht:
Ansprache für Ernst Hauptmann
Liebe Trauernde,
wenn man ins Haus der Hauptmanns kam, in die Stube, dann hing an der Wand neben der Uhr lange ein Bild, eine Bleistiftzeichnung. Ein Dresdner Künstler hatte es angefertigt. Darauf war eingefangen, wie 1949 in der Scheune der große Erntekranz gebunden wurde, der dann feierlich durchs Dorf getragen wurde. Und er wurde hier in der Scheune gebunden, weil in diesem Jahr Ernst Konfirmand war. Was hat er sich damals für sein Leben gewünscht? So kurz nach dem Krieg? Was hatte er für sich vor Augen?
Im Jahr 1949 fertigte Professor Rudolph Sitte eine Handzeichnung mit Kohle vom Haus. Zu sehen ist Großvater Oswald, wie er mit der Sense Futter mäht. Da Dr. Sitte kein Bauer ist, zeichnet er die rechte Hand in seltsamer Haltung am Sensenwurf (das hat Ernst immer bemängelt). In der Scheune bindet derweil die Ur-Großmutter Teresa - de Rese - zusammen mit der alten „Blimel-Jentschen“ den Erntekranz des Konfirmations-Jahrganges meines Vaters, Ernst Hauptmann, für die Kirche zum Erntedankfest. Die Konfirmation von Ernst ist im darauffolgenden Jahr am Palmsontag, dem 02.04.1950
Professor Sitte unterrichtete an der Universität in Dresden und war ein DDR-bekannter Künstler. Mein Opa bekam dieses Bild im Rahmen einer Erntedank-Veranstaltung für seine Arbeit in der „Bäuerlichen-Handels-Genossenschaft“. Da der Auftrag für das Bild sehr kurzfristig erfolgte, reichte es „nur“ für eine Schwarz-Weiß-Zeichnung.
Es gibt wohl noch ein älteres Bild, das ist das Haus eingeschossig, mit Umgebinde und Strohdeckung und auch links und rechts neben der Tür stehen noch zwei dünne Linden.
Seitdem sind 75 Jahre vergangen. Heute sind wir wieder in der Erntedankzeit zusammen. Der Schmuck auf Ernsts Grab erinnert daran. Und wir ernten nicht nur Sonnenblumen, Getreide und Mais. Sondern auch in einem Menschenleben gibt es Erinnerungen, für die sind wir dankbar, andere sind nicht so aufgegangen, wie gedacht, und hier und da bleibt etwas offen.
Diese Ernte, diese Erinnerungen haben Sie, lieber Herr Hauptmann, auf fünfeinhalb Seiten aufgeschrieben. Auch diese Zeilen sind bereits eine Ernte. Da sind die großen Entwicklungen drin, aber auch die Kleinigkeiten, die hängen bleiben. Wenn er sagte: „Bevors abgit nomo urdentlich rasiern!“
Als Sie Ernst gefragt haben: Hättest Du in deinem Leben etwas anders machen wollen, da antwortete Ernst: „Ne, wie sollte man!“
Aus diesem Leben möchte ich erzählen.
Kindheit 1935-1950
Ernst kommt am 14. Oktober 1935 auf die Welt, in einem Zittauer Krankenhaus. Ungewöhnlich in der damaligen Zeit. Doch seine Mutter Adele hatte bereits ein Kind nicht auf die Welt bringen können. Damit Ernst es schafft, muss es ein Kaiserschnitt werden. Adele muss nach der Geburt im Krankenhaus bleiben und wieder zu Kräften kommen. Sein Vater Oswald kümmert sich um den Bauernhof in Schönbach. Und für den kleinen Ernst sorgt erst einmal die Frenzel-Oma, bei sich zu Hause. Ein Vierteljahr später, im Januar wird er getauft. Auf den Namen seines Großvaters.
(Oma Selma, vor dem Seifert-Haus, nebenan)
Gemeinsam mit seinem Vater kauft Ernst Ferkelchen. Auf dem D-Rad ist statt des Seitenwegs ein Kasten montiert. Auf der einen Seite sitzt Ernst im Kasten und schaut aus der Luke, auf der anderen Seite sind die Ferkel eingesperrt. So geht es durch die Oberlausitz zurück nach Hause. 1938 bekommt Ernst ein Geschwisterchen. Auch Annemarie hat es dabei nicht so leicht, sie kommt zu früh und braucht viel Sorge. Und das auf einem Bauernhof, bei dem es immer etwas zu tun gibt. Aber auch immer etwas zu erleben. Ernst dabei ist mittendrin – beim Heumachen, beim Versorgen der Tiere, beim Säen und Ernten.
Dann beginnt der Krieg. Auf dem Hof ist die Familie mit allem gut versorgt. Doch 1942 (1941?) muss Vater Oswald auch in den Krieg, an die Ostfront. Er ist nicht dabei, als Ernst in die Schule kommt. Und bei so vielen anderen Momenten seines Kindes.
Weihnachten 1942 (oder 41?) im Hauptmann-Hof: mit Oma Rese (61), Annemarie (5), Ernst (7) Mama Adele (35) und Opa Ernst (76), dessen Namen er trägt. Er strirbt im Jahr darauf und erlebt die Heimker seines Sohnes Oswald aus dem Krieg leider nicht mehr.
Seine Aufgaben tragen nun Adele, Ernst und Annemarie mit. Mit seinen sieben Jahren muss Ernst bereits viel Verantwortung übernehmen. Dieses Gefühl, verantwortlich zu sein für Haus und Hof, wird ihn sein ganzes Leben begleiten. Immer gibt es etwas zu tun. Momente der Ruhe sind selten und kostbar.
1945 kehrt sein Vater völlig ausgezehrt aus Krieg und Gefangenschaft in Russland zurück. Ganz plötzlich steht er in der Küche, beim Mittagessen, nur noch ein Schatten des früher stattlichen Mannes. Doch er ist wieder daheim.
Jugend, Ausbildung, Studium 1951-1961
Ernst geht seine 8 Jahre in die Schönbacher Schule. Im Oktober 1949 wird der Erntekranz gebunden. Und im darauffolgenden April wird er konfirmiert. Weil er seine Sache in der Schule gut gemacht hatte, kann er dann auf die erweiterte Oberschule in Löbau lebt dort im Internat. Am Wochenende kann er nach Hause. 1954 legt Ernst das Abitur ab. Seine 1 in der Abschlussprüfung in Russisch, das ihm nicht so leicht von der Hand ging, überrascht ihn selbst.
(Ernst vor seinem Zuhause)
In dieser Zeit verliert sein ein Jahre älterer Cousin Rudolf, seine Eltern und kommt mit auf den Hof in Schönbach. Für Ernst wird er zum großen Bruder. Bis er ihn etwa 11 Jahre später, kurz vor seinem 30.ten Geburtstag, durch einen Motorradunfall verliert.
Schuleintritt 1942, Abschlussjahrgang 8. Klasse 1949. Mein Papa ist die zweite Reihe von hinten Mitte. Und neben ihm die Zwillinge vom Direktor, der mit einer Inderin verheiratet ist.
In den Fenstern hängen Plakate, vermutlich Werbung zur Gründung der DDR.
Mit dem Abiturzeugnis in der Hand kann Ernst zum Studium nach Halle, natürlich studiert er auf Diplom Landwirt. In Halle studiert auch Elke. Bei einem Skiurlaub der Uni lernen die beiden sich kennen. 1961 schließt Ernst sein Studium mit einer guten und besseren Diplomarbeit über Milchviehhaltung ab. Eine Erntefrucht.
Derweil wurden die Höfe zu Hause zwangskollektiviert. Zuerst die Flächen, später die Tiere. Vater Oswald sträubt sich lange, doch dann hat er einen Autounfall. Adele und er können es nicht mehr anders bewältigen. Sie geben nach.
Arbeit, Ehe und Familie – 60er und 70er Jahre
Als Ernst seine erste Stelle antreten will, geht es hin und her. Schließlich wird er der Maschinen und Traktoren Station Weißkollm im Bezirk Cottbus zugewiesen. Ein Jahr später kann er dann nach Neusalza-Spremberg wechseln. Das ist für ihn ein Glücksfall, denn er möchte Elke das Jawort geben. Ostern 1962 verloben sie sich bei Elke zuhause in Tanneberg bei Nossen. Die Ringe finden sich in einem Osterei, das danach noch bei vielen Osterfesten genutzt wurde. Die Hochzeit fand im Sommer des gleichen Jahres statt. Und dann, am 2. Dezember 1962, kommt Angela auf die Welt.
Herbst 1962 v.l.n.r.: Annemarie (23) seine Schwester, mit Ehemann Erich (28), Elke (24) seine Frau, Cousin Rudolf (28) ein Jahr vor seinem Unfall - vorn: Mama Adele (54), Ernst (27) und Vater Oswald (56)
Die junge Familie lebt mit auf dem Hof in Schönbach. Oswald liebt sein erstes Enkelkind sehr. 1970 wird Henryk geboren und 1974 Annett. Zwei Jahre später stirbt Ernsts Vater. Nun hat Ernst die Verantwortung für den Hof wieder komplett auf seinen Schultern.
Ausgleich zur Arbeit auf dem Hof suchen Elke und er beim Reisen. Sie fahren nach Ungarn, ins Riesengebirge oder an die Ostsee. An diesen Reisen hängen viele gute Erinnerungen. Auch die großen fröhlichen Familienfeste haben Sie nicht vergessen. Dabei auch Ernsts Schwester Annemarie mit ihren Kindern. In Erinnung bleibt auch Annett‘s Schuleintritt, bei dem sich der Schnaps seltsamerweise in Wasser verwandelt hatte. Etwas anders, als in der Bibel.
Ab 1963 arbeitet Ernst beim betriebswirtschaftlichen Beratungsdienst des Kreises. Zum Beispiel projektiert er dort den landwirtschaftlichen Teil der Schweinemastanlage Herwigsdorf. Nach einem Zwischenstopp in der Zuckerfabrik Löbau wechselt er schließlich in die Molkerei am gleichen Ort. Dort findet er sich dann endlich an einem Platz, an dem seine Gaben gesehen wurden und er sich weiterentwickeln kann. 17 Jahre arbeitet er dort beim Milcherzeuger-Beratungsdienst.
Molkerei, Gutachtertätigkeit, Selbständigkeit – 80er Jahre
Besonders wichtig ist ihm die Einführung der TGL Melken im Landkreis. Das war eine Art Norm, damit es zu weniger Euterkrankheiten und damit zum Verlust der Tiere kommt. Dafür engagiert er sich leidenschaftlich.
Er reist von einer LPG zur nächsten, stellt die Norm bei Melkerversammlungen vor und stellt sich mit seiner Melkerin in Meisterschaften und Wettbewerben dem Vergleich. Erfolgreich! Sie holen mehrfach erste Plätze. Und die damit verbundene Anerkennung.
Nebenbei arbeitet Ernst als Grundstücksgutachter, so wie es bereits sein Vater tat. Mitte der 80er Jahre macht er dies dann zu seinem Hauptberuf und bleibt es, sogar weit bis in die Rente hinein. Spannend ist es, mit ihm über Land zu fahren. Er weiß so viel zu erzählen über die Landwirtschaft, die Betriebe und Häuser, an denen sie vorbei kommen.
Medaillen, Urlaube und Feste können nicht darüber hinwegtäuschen – das sind Jahre gewesen, voller Arbeit und Mühe. Die zunächst unklare und unbefriedigende berufliche Situation, dazu der Hof zu Hause mit den Eltern, die Familie selbst. Für all das die Verantwortung. Und Ernsts klassische Vorstellung von der Aufgabenteilung. Er kann es schwer aushalten, wenn es dabei nicht so geht, wie er sich das gedacht hat. Oder es ist einfach alles zu viel. Und dann verliert er die Geduld.
Seine Familie leidet unter dieser Situation. Später sagt Ernst über seine Ehe: „Ich hab zu viel gearbeitet.“
Am 23. September 1983 wird die Ehe geschieden. Elke zieht mit Annett nach Weigsdorf-Köblitz, Angela ist zum Studium bereits in Dresden. Henryk bleibt bei seinem Vater. Der Stammhalter bleibt auf dem Hof. Das ist Ernst wichtig. Seine Mutter Adele kümmert sich um den Jungen. Ein Jahr später lernt Henryk einen Beruf und geht aufs Internat, so wie früher sein Vater. An den Wochenenden kommt er und Annett „nach Hause“. Ansonsten wird es still auf dem Hof.
Schützenverein, neue Liebe – 90er
Ein wichtiger Punkt in Ernst‘s Leben ist 1992. Da wird der Schützenverein in Schönbach neu gegründet. Und Ernst ist dabei, so wie früher sein Vater Oswald. Er engagiert sich beim Bau des Vereinshauses, bei Festen und Sitzungen.
2000 ist er zum ersten Mal Schützenkönig. Mit dem Säbel darf er die Parade anführen, ein Traum, der sich für ihn vier Jahre später noch einmal wiederholt. Er wird der gute Geist des Schützenvereins, selbst als er nicht mehr so gut kann. Mit kleinen Diensten macht er sich weiter nützlich, und sei es beim Kartoffelschälen oder Glühbirnen einschrauben.
In diesen Jahren wird Ernst Großvater von Linda, Lena, Oliver, Teresa, Ben, Johanna und Gustav. Als Olli auf die Welt kommt, freut er sich wie verrückt. Seinen Schützenbrüdern ruft er durchs Telefon zu: „Ich habe einen Sohn!“. Und zur Taufe ergreift er sogar im Gottesdienst kurz und bewegt das Wort. Das ist die Tradition, in der er selbst aufgewachsen ist. Auf den Jungs ruht die Nachfolge, die Verantwortung.
Der wichtigste Mensch in diesen Jahren wird für Ernst seine Inge. Legenden über ihr Kennenlernen gibt es einige. Haben sie sich vielleicht im Krankenhaus getroffen? Die Wahrheit ist wohl, dass man sich auf dem Dorf ja eigentlich irgendwie kennt. Und die schöne Inge fällt Ernst auf. Eines Tages kommen sie auf der Straße miteinander ins Gespräch. Sie verstehen sich gut. Beide sind sie geschieden und allein. Sie wissen, wie sich das anfühlt, wenn einem die Familie zerbricht. Die beiden sehen sich öfter und genießen die gemeinsame Zeit. Schließlich geht Ernst nur noch zum Arbeiten nach Haus. Offiziell zieht er 1998 mit ins Haus. Den Hof überlässt er ab 2007 Henryk und seiner Familie. Sie unternehmen gemeinsame Urlaubsreisen in alle Welt, von Australien bis Japan, am Nordkapp, Irland, Ägypten und Kuba. Als Henryk ein Jahr in Albanien ist, besucht er ihn natürlich. Auch diese Erlebnisse gehören in den Erntekorb. Wie auch seine Tätigkeit im Schönbacher Gemeinderat.
In Inges Familie kann er noch einmal neu starten. Er wird ihren Enkeln Martin und Sonja zum Opa. Gemeinsam feiern sie Weihnachten und Ostern. Und jeder Samstag ist ein kleines Fest, wenn sie gemeinsam frühstücken, für ihn unbedingt mit Hackepeter. Highlights sind auch die kleinen Ausflüge in die Eisbar. Auch seine Familie ist Ernst wichtig. Über Eck erkundigt er sich, wie es allen geht. Nur direkt zu fragen, das schafft er nicht.
Mit den Jahren wird Ernst krank. Regelmäßig muss er zur Dialyse. Inge kümmert sich gemeinsam mit Uwe und Annette um ihn. Sie sind eine große Hilfe. Gemeinsam teilen sie insgesamt 30 Jahre.
2023 stirbt Inge ganz plötzlich. Ernst bleibt in der Straße des Friedens wohnen. Dabei ist er bemüht, keine Arbeit zu machen. Er will sich selbst kümmern. Und freut sich an den kleinen Dingen. Einem Ausflug ins Eiscafé. Eine Runde durch den Ort. Manchmal träumt er von Inge: wie sie neben ihm sitzt auf dem Sofa. Auf seiner Traueranzeige, so sagt er, soll stehen: „Oma, ich komm!“
Im Mai diesen Jahres geht es ihm schlecht. Er ist blutarm, muss ins Krankenhaus, ein Tumor wird festgestellt und seine Schäden soweit als möglich operiert. Danach sind die Treppen für ihn nicht mehr zu bewältigen. Ernst zieht wieder in sein Elternhaus, ins Erdgeschoss. Mit Pflegebett und Leihrollstuhl. Seine Kinder und Enkel kümmern sich um ihn. Martin und Oliver sind besonders viel für Ihn da. Einkaufen, dabei die grüne Vipa nicht vergessen, baden und duschen …
Ernst erholt sich. Seine Wunde verheilt und er kann kleine Spaziergänge bis in den Hof wagen oder mit dem Rollstuhl draußen sitzen. Er genießt es, noch einmal hier in seinem Elternhaus zu sein. Sechs Wochen bleiben ihm. Sechs intensive Wochen mit seinem Sohn. Denn der Tumor wächst weiter. Er erzählt Henryk aus seinem Leben und der schreibt mit. Seine Lebensernte.
Sie suchen wichtige Orte auf. Gemeinsam fahren sie zum Löbauer Turm in seine Lieblings-Kneipe und an einen See. Schauen zusammen „Sturm der Liebe“ – die Serie die er jeden Tag mit Inge sah. Sie besuchen Henryks Freundin in Bayern zum Geburtstag, das war Ihm besonders wichtig, zu sehen wo und wie sie lebt. Mit dem Rollstuhl kommt er auch noch einmal richtig rum im Dorf. Auf dem Friedhof unterhält er sich mit einem Jugendfreund. Er kann noch mal auf dem Schützenfest sein.
Doch der Gedanke an den Tod macht ihm Angst. Was wird sein? Wird er bei Inge sein? Und wird auf dem Hof alles richtig gehen? Immer hat er die Verantwortung getragen. Er weiß am besten, wie man senst und wo das Unkraut unbedingt noch raus muss. Doch viel wichtiger ist ihm seine Lebensernte.
Und die ist für Ernst, dass man sich verträgt. Oft ist ihm das nicht geglückt. Gerade dadurch hat er gelernt, wie wichtig das ist. Sein Wunsch:
„Bitte, vertragt euch.“ („Vertroit euch ogg“ wie es Ernst sagte)
Der Samstag ist irgendwie magisch. Die Sonne scheint, alles ist ruhig und in tiefem Frieden. Annett und Henryk wachen abwechselnd bei ihm. Dann, es ist gerade halb acht, nimmt Ernst seinen letzten Atemzug. Und so stirbt Ernst Hauptmann im Alter von 88 Jahre am 07.08. 2024. Seine ganze Familie ist da und kann Abschied nehmen.
Was ernten wir, das was wir gesät haben? Aber wie fatal wäre das, wie sehr zum Verzweifeln. Da ist so viel Gutes. Doch bei jedem von uns gibt es auch das, was uns nicht gelingt. Weil es uns andere nicht schenken. Oder weil wir selbst dazu nicht in der Lage sind.
Hat sich Gott das so gedacht? Im Buch der Offenbarung wird beschrieben, wie es sein könnte, wenn wir bei Gott sind:
Und ein Engel zeigte mir einen Strom lebendigen Wassers, klar wie Kristall, der ausgeht von dem Thron Gottes und des Lammes, mitten auf ihrer Straße und auf beiden Seiten des Stromes Bäume des Lebens, die tragen zwölfmal Früchte, jeden Monat bringen sie ihre Frucht, und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Völker.
Mir tut diese Vorstellung gut, dass wir nach unserem Tode an einem Ort sind, an dem wir heiler werden. Durch Wasser, das uns reinigt und belebt. Durch Blätter der Heilung auf die Wunden in unserer Seele. Bis uns nichts mehr trennt von einander. Und wir die Liebe Gottes spüren können. Die Liebe zu uns und zu jedem anderen Menschen, der mit uns unterwegs ist.
Am Ende ist dies eine Ernte, die wir nicht selbst gepflanzt haben. Wir müssen es nicht aus uns selbst können. Die Verantwortung rutscht von unseren Schultern. Und wir kehren heim zu Gott, hinein in das Licht.
Sie sind weiter unterwegs. Hüten die Erinnerungen. Versuchen, ihre Lebensaufgaben zu lösen. Versuchen, Verantwortung für einander zu tragen und zu teilen. Auch als zwei Familien, die irgendwie zusammen gewachsen sind durch ein Gespräch auf der Dorfstraße. Und vertrauen darauf, dass das, was uns nicht gelingt, bei Gott nicht verloren ist. Amen.
Lied: Jesus, dein Licht
Pfarrerin: Maximiliane Rehm, Eibau
Ein Leben geht zu Ende. Und so wie ich diesen Lebenslauf mit einem Zitat begonnen habe, möchte ich ihn auch mit einem abschließen. Einem, dass mich jedes mal bewegt, wenn ich den Film sehe und von dem ich denke, dass es unserem Ernst gerecht wird:
Das Interview mit Ernst führte ich Anfang August, etwa zwei Wochen vor seinem Tod. Vielen Dank für die Zuarbeit von Uwe und Annette zu seinem Leben bei Inge und Angela zur Familiengeschichte mit Elke.
Dank ebenso an das Beerdigungsinstitut Kuhne, die uns in dieser Zeit sehr gut betreut haben.
Henryk Hauptmann, 20. August 2024